Das Moor bei Kirchheim war schon immer ein unheimlicher Ort. Nebelschwaden krochen nachts über das schwarze Wasser, und die alten Eichen warfen lange Schatten auf den sumpfigen Boden. Doch als an einem kalten Novembermorgen ein Bauer die Polizei rief, weil er im Moor eine Leiche entdeckt hatte, wurde aus Grusel Wirklichkeit.
Hauptkommissar Erik Voss stand am Rand des Moors und musterte die Szene. Die Moorleiche war bemerkenswert gut erhalten – als hätte die Zeit sie vergessen. Doch es war nicht der Fund einer jahrhundertealten Toten, wie man zunächst annahm. Die Rechtsmedizin stellte schnell fest: Diese Leiche war keine archäologische Sensation. Sie war höchstens ein Jahr alt.
„Was haben wir hier?“, fragte Voss, als seine Kollegin Lena Berg die Handschuhe überstreifte und sich über die Tote beugte.
„Weiblich, Mitte 30. Keine sichtbaren Verletzungen. Keine Papiere, keine Hinweise auf ihre Identität“, antwortete sie. „Aber sehen Sie sich das an.“
Lena deutete auf die rechte Hand der Toten. In ihrer verkrampften Faust lag ein goldenes Medaillon – alt, verziert mit einem Wappen.
Voss nahm es vorsichtig und öffnete es. Innen war ein verblasstes Foto – ein Mann mit stechendem Blick und einem kantigen Gesicht.
„Das ist doch…“, begann Lena, doch Voss nickte bereits.
„Verdammt. Das ist Johann Brenner.“
Johann Brenner, der vor einem Jahr spurlos verschwundene Unternehmer aus Kirchheim. Die Polizei hatte ihn für tot erklärt. Doch was verband ihn mit dieser Frau im Moor? Und warum tauchte ihre Leiche erst jetzt auf?
Voss wusste eines sicher: Das Moor hatte seine Geheimnisse noch lange nicht preisgegeben.
Hauptkommissar Erik Voss ließ das Medaillon in einen Beweisbeutel gleiten, während Lena Berg bereits die Umgebung absuchte. Das Moor war ein verdammt guter Ort, um eine Leiche verschwinden zu lassen – doch warum wurde sie gerade jetzt wieder ausgespuckt?
„Lass die Rechtsmedizin das Moorwasser analysieren“, sagte Voss. „Vielleicht erfahren wir, wie lange sie wirklich hier lag.“
Lena nickte und wandte sich an die Spurensicherung, während Voss sein Handy zückte. Johann Brenner – Kirchheims einst gefeierter Geschäftsmann, dann plötzlich untergetaucht. Es hatte Gerüchte gegeben: Schulden, dubiose Deals, eine Affäre. Doch keine Beweise.
Er scrollte durch seine Kontakte und rief einen alten Bekannten an: Bernd Schuster, Lokaljournalist und Kirchheims inoffizieller Klatschlieferant.
„Voss?“, meldete sich Schuster am anderen Ende.
„Brenner. Was weißt du noch über sein Verschwinden?“
Schuster lachte trocken. „Oh, er hatte sich viele Feinde gemacht. Geschäftspartner, Gläubiger, seine Frau…“
„Seine Frau?“, hakte Voss nach.
„Ja. Anna Brenner. Hat ein paar Monate nach seinem Verschwinden die Scheidung eingereicht – ausgerechnet, als er offiziell für tot erklärt wurde. Manche sagen, sie war erleichtert, dass er weg war.“
Voss rieb sich das Kinn. „Und von einer anderen Frau in seinem Leben?“
„Oh, da gab es Gerüchte“, meinte Schuster. „Aber nichts Konkretes. Warum fragst du?“
„Nur so“, murmelte Voss und legte auf.
Er drehte sich um, sah wieder auf die Tote. Konnte sie Brenners Geliebte gewesen sein? Hatte er sie ins Moor gelockt – oder hatte jemand sie beide zum Schweigen gebracht?
Dann fiel sein Blick auf die Hand der Leiche. Ihre Fingernägel. Erde klebte darunter.
„Lena!“, rief er. „Sag der Rechtsmedizin, sie sollen auf Abwehrspuren achten. Ich glaube, sie hat sich gewehrt.“
Lena nickte, doch ihre Miene war angespannt.
„Was ist?“, fragte Voss.
Sie hielt ihm einen Beweisbeutel hin. Darin lag ein silbernes Feuerzeug, mit eingravierten Initialen: J.B.
Johann Brenner.
Hatte er sie getötet? Oder war er ebenfalls tot – und die Lösung dieses Falles lag noch viel tiefer vergraben?
Voss blickte auf das dunkle Moorwasser. Er hatte das Gefühl, dass es nicht die letzte Leiche war, die sie hier finden würden.
Die Leiche wurde abtransportiert, das Moor gab seine düsteren Geräusche wieder von sich, während sich die Ermittler langsam zerstreuten. Doch Voss blieb noch einen Moment stehen.
Etwas stimmte hier nicht.
„Lena, was hältst du davon, wenn wir Anna Brenner einen Besuch abstatten?“, fragte er.
„Gute Idee. Wenn ihr Mann mit der Toten in Verbindung stand, dann weiß sie vielleicht mehr.“
Eine halbe Stunde später standen sie vor einer eleganten Villa am Stadtrand von Kirchheim. Die Rollläden waren halb heruntergelassen, und auf dem Kiesweg parkte ein schwarzer BMW.
Voss klingelte. Schritte im Inneren, dann öffnete sich die Tür. Anna Brenner war eine Frau um die vierzig, mit perfekten blonden Haaren und eisblauen Augen. Sie wirkte überrascht – oder war es nur gut gespielte Fassungslosigkeit?
„Kommissar Voss“, sagte sie kühl. „Was kann ich für Sie tun?“
Voss zeigte seinen Ausweis. „Frau Brenner, wir müssen mit Ihnen über eine Frau sprechen, die heute im Moor gefunden wurde. Sie trug ein Medaillon mit dem Bild Ihres Mannes.“
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein Ausdruck über ihr Gesicht – Überraschung, vielleicht auch Angst. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
„Mein Mann ist tot“, sagte sie knapp.
„Ja, das dachten wir auch“, meinte Lena. „Aber es gibt da einige Ungereimtheiten. Kannten Sie die Frau?“
Anna schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Sind Sie sicher?“ Voss hielt ihr ein Foto der Toten hin, das sie bereits aus dem Polizeicomputer hatten.
Anna betrachtete es, und diesmal konnte sie ihre Reaktion nicht ganz verbergen. Sie kannte die Frau.
„Frau Brenner, sagen Sie uns die Wahrheit“, forderte Voss.
„Ich… ich habe sie einmal gesehen“, gab sie schließlich zu. „Ihr Name war Nadine. Mein Mann hatte… Kontakt zu ihr. Mehr weiß ich nicht.“
„Kontakt?“, wiederholte Lena.
Anna wich ihrem Blick aus. „Sie war seine Geliebte.“
Voss seufzte. „Frau Brenner, Sie sollten ehrlich mit uns sein. Wo war Ihr Mann wirklich, als er verschwand?“
Stille. Dann flüsterte sie: „Ich weiß es nicht. Aber wenn Nadine tot ist… dann ist Johann vielleicht auch nicht mehr am Leben.“
Voss und Lena tauschten Blicke. Sie log. Und sie wusste mehr, als sie zugab.
„Frau Brenner, wir werden Sie noch einmal befragen müssen“, sagte Voss kühl. „Und bis dahin – bleiben Sie besser in der Stadt.“
Sie nickte nur, doch in ihren Augen lag Panik.
Als sie wieder im Auto saßen, drehte sich Lena zu Voss.
„Ich wette, sie weiß genau, was mit ihrem Mann passiert ist.“
Voss sah auf das Moor in der Ferne.
„Vielleicht sollten wir nicht nach ihm suchen müssen – sondern nach einer zweiten Leiche.“
Voss konnte es nicht ignorieren – Anna Brenner hatte Angst. Aber wovor? Vor der Wahrheit oder davor, dass die Polizei ihr zu nahe kam?
Zurück im Präsidium ließ er sich in seinen Stuhl fallen und fuhr sich durchs Haar. Lena war bereits dabei, die Ergebnisse der Rechtsmedizin durchzugehen.
„Hör dir das an“, sagte sie. „Die Tote ist tatsächlich Nadine Reuther, 34 Jahre alt. Verschwunden vor genau elf Monaten. Todeszeitpunkt? Vor ungefähr zwei Wochen.“
Voss runzelte die Stirn. „Moment. Zwei Wochen? Aber sie lag im Moor, als wäre sie seit Monaten dort gewesen.“
„Genau“, nickte Lena. „Der Moorboden hat sie konserviert, aber nicht lange genug, um sie seit ihrem Verschwinden dort zu wissen. Sie wurde anderswo getötet – und erst vor Kurzem hier entsorgt.“
Voss lehnte sich zurück. „Das bedeutet… jemand hat ihre Leiche fast ein Jahr lang versteckt gehalten.“
Lena blätterte in der Akte. „Und noch etwas: Sie hatte Wasserrückstände in der Lunge. Aber nicht aus dem Moor.“
„Das heißt, sie wurde woanders ertränkt“, murmelte Voss. „Verdammt.“
Er sah auf das Feuerzeug, das sie bei Nadine gefunden hatten. J.B. – Johann Brenner.
„Was, wenn Brenner sie umgebracht hat? Und dann selbst verschwunden ist?“ fragte Lena.
Voss schüttelte den Kopf. „Oder was, wenn jemand BEIDE loswerden wollte?“
Lena starrte ihn an. „Du meinst… jemand hat erst ihn und dann sie beseitigt?“
Voss stand auf. „Wir müssen wissen, wo Brenner das letzte Mal lebend gesehen wurde. Und wer Zugang zu diesem Medaillon hatte.“
Noch während er sprach, klingelte sein Handy.
Er nahm ab. „Voss.“
Stille am anderen Ende. Dann eine verzerrte Stimme:
„Ihr sucht an der falschen Stelle.“
Voss erstarrte. „Wer ist da?“
Kein Antwort. Nur ein Flüstern.
„Geht zurück ins Moor. Ihr werdet finden, was dort vergraben wurde.“
Dann war die Leitung tot.
Lena sah ihn fragend an. „Was war das?“
Voss legte auf und griff nach seiner Jacke.
„Jemand will nicht, dass wir weitergraben. Also genau das tun wir jetzt.“
Voss und Lena fuhren mit quietschenden Reifen zurück zum Moor. Der Nebel hatte sich verdichtet, lag wie ein schweres Tuch über dem sumpfigen Boden. Der anonyme Anruf ließ ihm keine Ruhe.
Jemand wusste, dass sie auf der richtigen Spur waren.
Mit Taschenlampen bewaffnet, gingen sie tiefer in das unheimliche Gelände. Der feuchte Boden sog ihre Stiefel fast ein, und irgendwo in der Ferne krächzte ein Rabe.
„Was genau suchen wir hier?“, fragte Lena leise.
„Irgendetwas, das erklärt, warum Nadine erst jetzt aufgetaucht ist. Und vielleicht – wo Brenner wirklich steckt.“
Plötzlich blieb Voss stehen. Direkt vor seinen Füßen war der Boden aufgewühlt, als hätte jemand hier erst vor Kurzem gegraben.
Er kniete sich hin, wühlte mit den Händen in der feuchten Erde. Dann fühlte er es – etwas Hartes.
„Lena, hilf mir!“
Gemeinsam legten sie frei, was darunter verborgen war. Ein alter, verwitterter Koffer.
Lena holte ein Taschenmesser heraus und knackte das rostige Schloss. Die Klappe sprang auf – und Voss fluchte leise.
Darin lagen Knochen. Ein menschlicher Schädel starrte sie aus leeren Augenhöhlen an.
„Scheiße“, murmelte Lena. „Das kann doch nicht…“
Voss griff nach einem halb verrotteten Stück Stoff, das zwischen den Knochen lag. Eine Jacke – mit eingestickten Initialen:
J.B.
„Johann Brenner“, flüsterte Voss.
Das Moor hatte endlich seine zweite Leiche preisgegeben.
Doch wer hatte sie hier vergraben – und warum wurde Nadine erst so viel später getötet?
Voss richtete sich auf. „Das hier war eine Botschaft.“
Lena nickte langsam. „Jemand wollte, dass wir ihn finden. Aber warum jetzt?“
Ein Ast knackte im Dunkeln. Beide zuckten herum.
Ein Schatten bewegte sich am Rand des Moors.
„Hey! Polizei! Stehenbleiben!“ rief Voss und rannte los.
Die Gestalt drehte sich um – und in der Dunkelheit blitzte ein Gesicht auf.
Es war Anna Brenner.
Sie sah sie nur einen Moment lang an, dann wandte sie sich um und rannte.
„Lena, los!“ Voss sprintete hinterher.
Aber Anna war schnell. Sie verschwand in den Bäumen – und mit ihr das letzte Geheimnis um die Morde.
Voss und Lena rannten durch das unebene Gelände, doch Anna Brenner kannte das Moor besser als sie. Ihre Silhouette verschwand zwischen den Bäumen, doch dann – ein Schrei.
Ein dumpfer Aufprall folgte.
Als sie die Stelle erreichten, lag Anna auf dem Boden. Ihr Fuß war in einer Wurzel hängen geblieben, sie hielt sich das Handgelenk und keuchte vor Schmerz.
Voss zog seine Waffe. „Bleiben Sie liegen, Frau Brenner! Keine Bewegung!“
Lena legte ihr routiniert die Handschellen an, während Anna zitternd aufblickte. Ihre perfekte Fassade war gebrochen, ihre Augen voller Panik.
„Es… es war nicht meine Schuld…“, stieß sie hervor.
„Erzählen Sie das im Verhör“, sagte Lena kalt.
Im Verhörraum des Präsidiums wirkte Anna wie ein Schatten ihrer selbst. Die sonst so elegante Frau saß mit hängenden Schultern da, während Voss ihr ruhig gegenüber saß.
„Wir haben die Knochen Ihres Mannes gefunden“, sagte er. „Und wir wissen, dass Nadine erst vor zwei Wochen ermordet wurde. Erzählen Sie uns, was passiert ist.“
Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich… ich hatte nichts mit seinem Tod zu tun. Aber Nadine…“ Sie schluckte. „Nadine wusste es.“
Voss lehnte sich zurück. „Also war es nicht Sie, die Johann Brenner getötet hat?“
Anna schüttelte den Kopf. „Nein. Das war sein Geschäftspartner, Frank Wenz.“
Lena hob eine Augenbraue. „Wenz? Warum?“
„Geld“, flüsterte Anna. „Johann hatte Schulden, hohe Schulden. Er wollte aussteigen, aber Wenz… ließ ihn nicht gehen. Also hat er ihn umgebracht.“
„Und Nadine?“ fragte Voss scharf.
Anna schniefte. „Sie hat es herausgefunden. Sie hat mich erpresst. Sie wollte Geld, damit sie nicht zur Polizei geht.“
„Also haben Sie sie getötet?“
Anna schüttelte verzweifelt den Kopf. „Nein! Ich schwöre es! Ich wollte ihr das Geld geben, wirklich! Aber Wenz… er hat es herausgefunden. Und dann war sie tot.“
Voss sah ihr in die Augen. „Und warum haben Sie dann im Moor nach dem Koffer gesucht?“
Ein Zittern lief durch ihren Körper. „Wenz… hat mir gedroht. Er sagte, wenn ich die Polizei nicht von ihm fernhalte, bin ich die Nächste.“
Lena und Voss tauschten Blicke.
„Wo ist Lenz jetzt?“ fragte Voss scharf.
Anna schluckte. „Er… er wollte abhauen. Heute Nacht. Er hat ein Haus am alten Bootssteg am See.“
In jener Nacht umstellten Voss, Lena und das SEK das abgelegene Haus am See. Ein dunkler BMW stand in der Einfahrt – Frank Wenz war noch hier.
„Polizei! Öffnen Sie die Tür!“ rief Voss.
Drinnen klirrte Glas. Dann ein Schatten im Fenster.
Wenz rannte.
Doch dieses Mal war die Polizei schneller. Noch bevor er das Wasser erreichte, warfen sich zwei Beamte auf ihn, drückten ihn in den Matsch.
„Frank Wenz, Sie stehen unter Verdacht des Mordes an Johann Brenner und Nadine Reuther!“ rief Voss.
Wenz keuchte, sein Gesicht verzog sich vor Wut. „Diese verdammte Anna! Sie hat euch alles erzählt, oder?“
„Genau“, sagte Lena, während sie ihm Handschellen anlegte.
Es war vorbei.
Zwei Wochen später saß Voss in seinem Büro und ließ die Akte zufallen.
Wenz hatte gestanden. Er hatte Brenner getötet, um seine krummen Geschäfte zu schützen – und Nadine ermordet, weil sie zu viel wusste. Anna Brenner hatte ihre Mitschuld durch Schweigen begangen, doch am Ende hatte sie die Wahrheit gesagt.
„Ein düsterer Fall“, sagte Lena, die mit zwei Kaffeebechern hereinkam.
Voss nickte. „Aber das Moor vergisst nichts.“
Draußen begann es zu regnen, während das Moor von Kirchheim langsam wieder zur Ruhe kam.
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